Wir sind unterwegs "aufs Land". Nur wissen wir nicht so recht, wohin es jetzt genau gehen soll. An die Schwarzmeerküste? In Reiseberichten anderer Overlander sind die Beschreibungen dieser Strecke wenig schmeichelhaft, um das mal nett zu sagen. Ins Landesinnere nach Zentralanatolien? Anatolien ist der asiatische Teil der Türkei. Aber zumindest in Zentralanatolien scheint es nicht viel zu geben, ausser Steppe und Landwirtschaft. Und so fahren wir erstmal in einen überraschend schönen Tierpark etwas ausserhalb Istanbuls. Dort darf man – Regierung sei Dank – sogar kostenlos campieren. Am Morgen vor der Weiterfahrt in unbekannte Richtung, sprechen wir glücklicherweise noch mit unseren Camping-Nachbarn. Die zwei Türkischen Overlander veranlassen uns schliesslich dazu, nach Zentralanatolien zu fahren und die Schwarzmeerküste zumindest vorerst zu ignorieren.
In Zentralanatolien gibt es das Frig Vadisi – ein ziemlich grosses Gebiet zwischen drei mittelgrossen Städten, das komplett von der Landwirtschaft dominiert wird. Aber zwischen den abgeernteten Getreidefeldern erheben sich überall skurrile Felslandschaften. Und in diese Felsen hat das wenige bekannte Volk der Phrygier irgendwann lange vor Christus Höhlenkirchen, riesige Denkmäler und ganze Städte gehauen. Einige wenige Dörfer haben nun damit begonnen, das Ganze touristisch zu vermarkten.

Das Frig Vadisi ist noch nicht komplett erforscht und erscheint wohl auf kaum einer Bucket List. Aber man munkelt, dass es irgendwann so bekannt werden wird, wie Kappadokien. Das Potential ist auf jeden Fall da – die mehrstöckigen Höhlensysteme und Denkmäler sind spektakulär und in den Canyons zwischen den Felsen kann man sehr schön wandern. Heute besuchen das Gebiet fast ausschliesslich Türkinnen und Türken aus den umliegenden Städten – zum Beispiel, um kitschige Hochzeits-Fotoshootings zu machen. Auf jeden Fall wird es spannend sein zu sehen, wie sich die Region in den nächsten Jahren entwickeln wird. Verkommt sie zum „Disneyland“? Oder wird sie zu einem „Must-Do“ auf jeder Türkei-Reise?
Uns jedenfalls, hat es gefallen. Und den Einheimischen haben wir gefallen. So werden wir von einem Bauern spontan auf seinen Hof zu Cay, Gözleme und Ziegenkäse eingeladen und Klein R darf des Öfteren als Fotomodell herhalten.
Nach ein paar Tagen auf dem Land verstehen wir jetzt auch, warum die Türkei oft als Paradies für Overlander beschrieben wird. Hier kann man sein rollendes Haus wirklich überall hinstellen und unbehelligt übernachten. Und so kommt es, dass wir endlich unsere „Notfalldusche“ in Betrieb nehmen. Und es hat schon was – so mitten in der Natur am frühen Morgen bei eisigem Wind kalt zu duschen – man fühlt sich danach auf jeden Fall ziemlich lebendig.

Unsere nächsten Ziele recherchieren wir oft auf Reiseblogs von anderen Overlandern. Und einige schilderten schon fast verzweifelt, wie sehr sie die Distanzen in der Türkei unterschätzt hatten. Natürlich haben wir dieses „Problem“ ignoriert, solange wir konnten. Aber nun erfahren wir es am eigenen Leib und realisieren, dass wir es Klein R und unseren Nerven nicht zumuten können, die ganze Türkei von West nach Ost im Auto zu durchqueren. Aber wir haben Glück – im April wurde die erste High Speed Zuglinie in diese Richtung eröffnet. Und so heisst unser nächster Stopp gezwungenermassen Eskisehir. Denn dort werden Klein R und ich in den Zug einsteigen und bis nach Sivas fahren.
Eskisehir wird als „moderne und hippe Universitätsstadt“ beschrieben. Und tatsächlich ist die Stadt deutlich weniger konservativ, als das, was wir bisher gesehen haben. Die Teenager tragen freizügige Kleidung, sind tättowiert und färben sich die Haare. Tschador und Kopftuch sind nur noch selten zu sehen. Bars und Nachtclubs reihen sich an Irish Pubs und Fast Food Läden.
Nun, was für manche junge Anatolier sicherlich neu und aufregend ist, wirkt auf uns – und das soll nicht abschätzig oder überheblich klingen – wenig originell. Wir passen hier nicht hin und wissen nicht so recht, was wir mit uns anfangen sollen. Das Thermometer zeigt weit über 40°C und es dauert noch ganze zwei Tage, bis zur Abfahrt des Zuges. Die Klimaanlage lockt uns in die grösste und neuste Shopping Mall der Stadt. Dort schauen wir uns Pfannen an und kaufen schliesslich Socken und Unterhosen. Da wir nicht zweimal täglich Fast Food essen wollen, gibt es zum Z’Nacht jeweils Müesli im Hotelzimmer. Kurz: es ist gerade etwas öde. Nur Klein R gefällt es (wie immer). Denn es gibt eine Strasse mit Trampolins und im Hotelzimmer darf sie Fernsehen.

Für uns das Highlight in Eskisehir wäre das relativ neue OMM Odunpazarı Modern Müze
(Museum of Contemporary Art). Dieses soll richtig gut sein. Und es hat bis Ende August geschlossen. Zumindest gab es im geöffneten OMM Restaurant was anderes zu Essen als Fast Food – einen veganen Linseneintopf mit Sauerkirschen und Falafel Wraps. Tatsächlich würde das OMM perfekt in jede westeuropäische Stadt passen. Hier wirkt es wie ein eben gelandetes Raumschiff von einem fremden Planeten.

Wir wollen uns aber keinesfalls beklagen. Schliesslich sind wir als Schweizer auf Langzeitreise eine absolut privilegierte Spezies, was uns auch auf dieser Reise wieder deutlich vor Augen geführt wird. Während sich die meisten Türkinnen und Türken nicht einmal Ferien im eigenen Land leisten können, zogen wir heute weiter. Gross R und Marmot schwitzten auf endlosen aber hervorragend ausgebauten, leeren Autobahnen mit max. 100km/h und fast ohne Pause Richtung Osten. Klein R und ich stiegen drei Stunden später in den klimatisierten Zug nach Ankara. Am hochmodernen und völlig überdimensionierten Bahnhof machten wir Mittagspause und setzten uns dann in den neuen Hochgeschwindigkeitszug. Mit bis zu 250km/h düsten wir durch 49 Tunnels und über 49 Viadukte bis nach Sivas. Die Landschaft war auf der gesamten Strecke sehr eintönig. Flache Steppe in der Unmengen Getreide angebaut werden und dazwischen staubige Dörfer und Kleinstädte mit den immer gleichen mehrstöckigen Wohnhäusern.
Für die zwei Kilometer vom Bahnhof Sivas bis zum Hotel benötigten Klein R und ich zu Fuss dann 45 Minuten, was dazu führte, dass Gross R exakt 5 Minuten vor uns an der Reception eintraf. Nun sind wir also schon fast in Ostanatolien. Aber eins nach dem anderen – morgen besichtigen wir zuerst mal die ehemaligen Medressen in Sivas, welches immer noch in Zentralanatolien liegt.
Comments