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Endzeitstimmung

Autorenbild: Gross LGross L

Wir sind in Nur-Sultan. Doch alle nennen Nur-Sultan Astana. Die kasachische Hauptstadt wechselte in kurzer Zeit mehrmals den Namen und wurde 2019 zu Ehren des abgetretenen Präsidenten von Astana in Nur-Sultan umbenannt. Ich finde eigentlich auch, dass wir Bern endlich in Alain umbenennen sollten. Oder vielleicht doch lieber in Ueli oder Karin? Darüber müssten wir dann wohl das Schweizer Stimmvolk entscheiden lassen. Egal. Erst beim Schreiben dieses Beitrages habe ich rausgefunden, dass Nur-Sultan seit 2022, auf Drängen des kasachischen Volkes, wieder zurück umbenannt wurde. Wir sind also offiziell in Astana.  


Dieses Astana wurde 1997 aus strategischen Gründen zur Hauptstadt erklärt und erlebt seither einen gewaltigen Bauboom. Astana ist eine Planstadt mit einer Skyline, die von Star-Architekten von Grund auf entworfen wurde. Ein Prunkbau reiht sich an den nächsten. Hier gibt es eine gläserne Pyramide, die an das Louvre in Paris erinnert. Monumente, die an römische Zeiten angelehnt sind, einen Präsidentenpalast, der dem weissen Haus in Washington zum Verwechseln ähnlichsieht, einen gigantischen Wohnkomplex, der wohl an die goldenen 50er erinnern soll und Wolkenkratzer-Siedlungen, die genauso in Dubai stehen könnten. Und nicht zuletzt eine zeltförmige Shopping Mall in deren obersten Stockwerk ein Beach Club zum Badeurlaub einlädt – der Sand wurde extra aus den Malediven importiert. Aber wo genau ist in diesem Gewirr eigentlich Kasachstan?



Wir besuchen das Nationalmuseum. Die Exponate aus Kasachstans nicht allzu ferner Vergangenheit, als hier noch Nomaden durch die Steppen galoppierten, wirken fast fehl am Platz. Fremd im eigenen Land. Wir müssen hier aber auch anfügen, dass wir Kasachstan natürlich bisher nur aus der Grossstadt kennen – wir sind überzeugt, dass wir mit unserem Marmot ein komplett anderes Kasachstan erleben würden. Wahrscheinlich eines, wo das Reitervolk und das Nomadentum noch viel präsenter wären. Unser Eindruck Astanas und ein Blick in die Geschichte lassen uns aber vermuten, dass sich Kasachstan noch in einer Art Findungsphase befindet. Das wäre verständlich, denn schliesslich wurden die nationalen Grenzen in ganz Zentralasien erst in den 1920er Jahren durch Stalin gezogen und dies ohne Rücksicht auf traditionelle Wirtschaftsräume oder natürliche Grenzen. Vor der Besatzung durch Russland war die Region in Khanaten, bestehend aus mehreren Stämmen oder Horden, organisiert. Während der Sowjetunion wurden Nomaden zur Sesshaftigkeit gezwungen, massenhaft Menschen umgesiedelt, deportiert oder enteignet. Und so sind heute viele Bewohner Zentralasiens angehörige einer ethnischen Minderheit innerhalb eines künstlichen Gebildes.


Aber zurück nach Astana. Das Nationalmuseum ist wenig überraschend ein riesiger Prunkbau. In der fünfstöckigen Eingangshalle hängt ein übergrosses Ölgemälde eines gewissen Ex-Präsidenten namens Nursultan. Gleich dahinter eine in Bronze gegossene Statue desselben Herren. Die Leute lieben ihn und machen fleissig Selfies! Der Rest des Gebäudes ist ein wahres Rätsel – wir irren uns durch die einzelnen Hallen. Die Architekten hatten wohl vergessen, dass sich in einem Museum auch Besucher aufhalten werden, die sich irgendwie orientieren müssen. In einigen Räumen nimmt billiges Laminat den Ausstellungsstücken den Glanz und die Verkleidung des stockenden Lifts bröckelt bereits. Das alles ergibt ein Bild, welches sich leider zu oft wiederholt: gegen Aussen wird geprahlt und geklotzt, das Wesentliche bleibt auf der Strecke. Ein weiteres Prunkstück, eines das wir wirklich mögen, ist das Gelände der Expo 2017 mit der riesigen Kugel als Zentrum.



Natürlich gibt es in Astana neben dem höchsten Wolkenkratzer auch noch die grösste Moschee Zentralasiens. Sie wurde 2022 fertiggestellt und bietet Platz für 235'000 Menschen. Diese Astana Grand Mosque ist schön und in ihrer Grösse sicherlich überaus beeindruckend. Und doch ist sie für uns nicht vergleichbar mit den alten Moscheen in Istanbul oder Usbekistan, deren Räume eine Geschichte erzählen und eine einzigartige Stimmung bewirken. Man kann mit Ölgeld wohl fast alles bauen. Aber mit Seele füllen sich die Räume deswegen noch lange nicht.



All diesen Dingen zum Trotz – uns gefällt es in Astana! Irgendwie. Die Stadt hat eine Vision, man will sich bewegen. Uns gefällt der viele Schnee und der gefrorene Ischim, der sich wie die Berner Aare durch die Stadt schlängelt. Männer in dicken Mänteln bereiten an den abfallenden Ufern riesige Rutschbahnen aus Eisklötzen für das Neujahrsfest vor. In Hinterhöfen von vermeintlich anonymen Überbauungen bauen die Kinder des Quartiers gemeinsam Schneemänner und legen eifrig Eisbahnen an. Es gibt riesige Parkanlagen und die Stadtgärtner haben tausende Bäume und Tannen gepflanzt. In Astana kann man Ballette, Opern und Konzerte von höchster Qualität besuchen und Essen aus allen Teilen der Welt finden. Die Kulturlokale und unzähligen Restaurant und Cafés sind in der kalten Jahreszeit gut besucht.



Mit dem Dresscode im Ballett können wir nicht mithalten

Astana ist nämlich nach Ulaanbaatar die zweitkälteste Hauptstadt der Welt. Die Winter sind lang und oft wehen heftige Winde, die sich in der umgebenden Steppe ungebremst entwickeln können. Und so sehen wir in Astana kaum je weiter als 50 Meter und kämpfen uns durch Schneeverwehungen. Im brutalen Gegenwind gehen viele Leute rückwärts. Wir beschliessen manchmal sogar das Taxi zu nehmen, nur um nicht im Gegenwind gehen zu müssen. Sightseeing in der Grossstadt wird zum Outdoor-Abenteuer. Da wir mehr oder weniger die einzigen Touristen unterwegs sind, fühlen wir uns zwischen all diesen futuristischen Bauwerken im tiefen Schnee immer mal wieder wie in einem Endzeiten-Film, in dem wir als einzige Überlebende das letzte Raumschiff erreichen müssen. Apokalypse Astana oder so.



Eben, wir mögen Astana „irgendwie“. Hätte man die Milliarden, welche in Prunkbauten oder kurzfristige Events wie die Expo 2017 flossen, stattdessen in ein funktionierendes öV-Netz investiert, könnten wir das „irgendwie“ sogar weglassen. Die Stadt leidet unter einem notorischen Verkehrsstau und die hilflosen Bewohner können nur mitmachen. Denn es gibt keine Ausweichmöglichkeit zum Auto – schon gar nicht im langen Winter. Die Temperaturen bewegen sich während unseres Besuches tagsüber zwischen minus 5 und minus 30 Grad. Für uns ein ideales Trainingslager für die nächste Station: wir fahren weiter nördlich Richtung Russische Grenze, Richtung Sibiren.



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