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Eisenbahn-Romantik

Autorenbild: Gross LGross L

Wir bereisen Usbekistan und Kasachstan mit dem Zug und bis jetzt haben wir 110 Stunden auf den örtlichen Schienen verbracht. Davon einige in modernen Zügen und andere doch eher noch in der Eisenbahn. Diese hohe Zahl mag erstmal erstaunen, aber die beiden Länder sind schlicht riesig. Wer Kasachstan von West nach Ost durchqueren will, macht ungefähr gleich viele Kilometer wie jener, der von der Schweiz bis nach Kasachstan fährt.


Wir wussten nicht, was auf uns zukommt, als wir uns für eine Zugsreise entschieden. Heute wissen wir, es kann fast alles passieren. Jedenfalls haben wir uns vorgestellt, dass wir gemächlich durch verschneite Landschaften und schier unendliche Wüsten tuckern und dabei im Restaurant-Waggon ein Feierabendbier schlürfen werden. Und manchmal ist das genauso. Dann kommt Nostalgie auf und wir feiern das Reisen mit dem Zug.



Manchmal aber, ist es nicht ganz so romantisch. Und man wünscht sich überall hin – nur nicht in diese Eisenbahn. Zum Beispiel dann, wenn man sich morgens um 5:00 Uhr mit zu viel Gepäck und eingepackt in dickste Winterkleider durch die engen Gänge in einen ziemlich vollen Waggon quetscht, der bereits seit 30 Stunden unterwegs ist. Man kann sich vorstellen, welch herrliches Düftlein einem da entgegenweht. Die Usbeken und die Kasachen haben eine Allergie gegen frische Luft – wehe jemand wagt es, und nur wir Touristen würden es wagen, ein Fenster zu öffnen und herrlich frische Luft reinzulassen. Nein, viel lieber heizen die Zugsbegleiter so richtig ein, so dass man sich in der Sauna wähnt. Wenn man dann auch noch auf die Toilette muss, dann hat man das Geschenk. Gut immerhin kommt da ein frisches sibirisches Windchen von unten her, sobald man die Spülung betätigt.


Hier ein paar Einblicke in das Innenleben dieser Züge inklusive der eben beschriebenen Sauna-Maschine, die auch heutzutage noch mit Kohle betrieben wird.



Ihr könnt sicher erkennen, dass wir beim Einsteigen jeweils eine Zeitreise in die 80er oder 90er Jahre unternehmen. Aber eigentlich beginnt diese Zeitreise bereits auf dem Perron, wo sich Menschen in Pelzmänteln und mit viel Gepäck um die uniformierten Zugbegleiter drängeln, um rauszufinden, wo ihr Wagen steht. In Usbekistan geht das Ganze sehr geordnet zu und her und wir werden immer direkt zum richtigen Waggon verwiesen. In Kasachstan geht das etwas anders. Die Kasachen verhalten sich hier gleich, wie im Strassenverkehr. Die ein Horde versucht reinzudrängen, während die andere Horde versucht rauszukommen. Es gilt das Gesetz des Stärkeren. Einen Orden verdienen die älteren Damen, die in stoischer Ruhe organisieren, dass ihnen jemand das Gepäck rausholt. Niemand wagt es, sich ihnen in den Weg zu stellen.



Nur zwischen den beliebtesten touristischen Strecken in Usbekistan verkehren moderne Hochgeschwindigkeitszüge – wobei sie nie Hochgeschwindigkeit fahren, denn die Geleise wurden wahrscheinlich bei der Modernisierung vergessen. Ist man mal drin, dann spielt das Äussere des Zuges allerdings kaum mehr eine Rolle. Platz hat man in den älteren Modellen nicht weniger, als in den Neuen. Und die Betten sind eigentlich auch ordentlich bequem. Auch die Bahnhöfe, genannt Vokzal, gleichen sich alle. Sie haben alle den selben Schriftzug auf dem Dach und wurden zu unserer Freude im sowjetischen Stil erbaut.



Wir testen auf unseren Fahrten alle drei Klassen. Das heisst 1. Klasse mit privatem Zweierabteil inklusive Lavabo, bis 3. Klasse, wo sich auf gleicher Fläche 6 Betten befinden. Auf einigen Strecken gibt es wohl auch noch Waggons, die einem Massenlager gleichen – aber diese erwischen wir glücklicherweise nie. Unabhängig davon, in welcher Klasse man nächtigt, sobald man morgens im schaukelnden Bett erwacht und die Sonne durch die beschlagenen oder gar vereisten Fenster scheint, vergisst man schnell alle Sorgen. Dann gilt es erstmal, seine Tasse am Wasserkessel zu füllen und sich einen Instant-Kaffee zu gönnen. Und bald schon heisst es, sorgsam die Bettwäsche zusammenzufalten und dem Waggon-Chef abzugeben, damit dieser alles akribisch durchzählen kann. Einmal haben wir ein Frotteetuch verloren, das war nicht gut. Aber wir wurden nicht bestraft, denn zu unserem Glück konnte der Zugbegleiter kein Englisch.



Ab Tashkent reisten wir kontinuierlich Richtung Norden. Wir wollten bis an den Rand Sibiriens, in die nördlichste Stadt Kasachstans. Der Grenzübergang von Usbekistan nach Kasachstan verlief schleppend und nahm über drei Stunden in Anspruch. Aber wir wollen uns darüber nicht beklagen, schliesslich konnten wir den Grenzbeamten die Pässe direkt aus dem Bett entgegenstrecken. Je weiter nördlich wir kamen, desto später ging die Sonne auf und desto eisiger wurden die Bahnsteige. Und heute am 5. Januar sind wir in der nördlichsten Stadt Kasachstan, in Petropavl, angekommen.



All diese Fahrten machten Lust auf mehr und so buchten wir für unsere Rückreise (ja genau, in zwei Wochen beginnt unsere Rückreise Richtung Westen) einen Zug von Astana nach Aktau. 48 Stunden dauert die Fahrt. Als wir dies dann kasachischen Mitreisenden erzählten, erklärten uns die, dass sie nie im Leben auf diese Idee kommen würden. Niemand tue das. Alle nehmen das Flugzeug… Und da wir gerade in einem Zug sassen, der mehrere Stunden Verspätung hatten, kamen erste Zweifel an unserem tollen Plan. Wir extrapolierten diese Verspätung dann auf 48 Stunden Fahrzeit und stellten fest, dass es ziemlich übel werden könnte. Nach reiflicher Überlegung haben wir unsere Tickets dann retourniert und werden nun also auch das Flugzeug nehmen. Aber ein Bisschen Wehmut kommt da schon auf. Denn was wir im Flugzeug sicher nicht haben werden, sind so viele Gelegenheiten, sich mit Einheimischen zu unterhalten, Esswaren und Süssigkeiten zu tauschen und gemeinsam zu spielen. Vielleicht könnten wir ja doch nochmals umbuchen?



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