Die Stadt Sivas ist ein ziemlicher Gegensatz zu Eskisehir. Kein Wunder, dazwischen liegen schliesslich auch 700km eintönige Steppe. In den alten Medressen, in denen früher der Koran und islamische Wissenschaften gelehrt wurden, fühlt man sich wie im Iran. Die Strassen und Trottoirs sind breit und wir spazieren ohne wirkliches Ziel ein Bisschen durch die Stadt. Mehrmals werden wir gefragt, was wir hier tun. Offenbar kann sich niemand erklären, warum um alles in der Welt ausländische Touristen nach Sivas kommen sollten. Die Leute freuen sich richtig, wenn wir ihnen sagen, dass es uns hier gefällt. Alle erzählen uns stolz davon, dass es in Sivas das Beste Fleisch gibt. Von ihrem Kebab, Köfte, Pide und Lahmacun können sie gar nicht genug kriegen. Und wir essen hier tatsächlich sehr gut. Und doch könnte es für uns auch mal wieder irgendwas ohne Fleisch sein.
Von Sivas aus reisen wir wieder alle gemeinsam mit Marmot ostwärts. Und zwar weitere 350km durch endlose Steppe in eine weitere staubige Kleinstadt namens Bayburt. Von dort dann über einen kargen, kalten und windigen Pass. Rauf und wieder runter. Ab da wird die Landschaft abwechslungsreicher und unsere Strasse schlängelt sich entlang des Coruh Flusses durch ein schönes, grünes Tal. Hier haben wir noch keine Ahnung davon, wie sehr uns dieser Coruh Fluss noch begleiten wird.
Eigentlich wollten wir am Coruh Fluss campieren. Aber kaum sind wir ausgestiegen, sitzen wir schon auf der Picknick-Decke einer Türkischen Familie und trinken Cay. Die Familie lädt uns auch noch gleich zu sich nach Hause zum Abendessen und Übernachten ein. Alle fünf sind uns sehr sympathisch und die Türkische Gastfreundschaft kann man fast nicht ausschlagen und so packen wir wieder zusammen und fahren die kurze Strecke zurück zu ihrem Haus.
Dieses ist aus Lehm und Mist gebaut und sie leben wohl von dem, was ihr Garten so hergibt. Dennoch kochen sie für uns ein feines Nachtessen, tischen ein vielseitiges Frühstück auf und schenken uns zum Abschied sogar noch ein grosses Glas Honig! Verständigung ist dank Google Translate auch ohne Sprachkenntnisse möglich und so hatten wir einen wirklich schönen Abend. Über unser Gastgeschenk – ein Victorinox Sackmesser – haben sie sich sichtlich gefreut. So langsam gehen uns die Sackmesser aus. Sollte uns also jemand besuchen kommen: bitte Sackmesser mitbringen 😊
Weiter gehts – eigentlich wollen wir ja ins Pontische Gebirge, auch Kacgar Gebirge genannt. Aber von Höhenmetern fehlt weiterhin jede Spur. In New Yusufeli, mehr dazu später, verlassen wir die Hauptstrasse und biegen in ein Seitental ab. Das Tal wird enger und enger, bis wir durch richtige Schluchten fahren und endlich an Höhe gewinnen. Als wir im letzten Bergdorf vor dem Kacgar Massiv aussteigen, begrüsst uns herrlich frische Bergluft. Was für eine Wohltat nach fast drei Monaten in der Hitze. Und als wir den ersten Kuhfladen riechen, fühlen wir uns direkt wie zu Hause.
Hier im Kacgar Massiv und im Bergdorf Olgunlar ist es eigentlich wie im Obergoms. Einfache Holzhäuser, daneben die kleinen Ställe, eine Pension, ein Restaurant und freundliche Bergbauern. Nur würde es uns in der Schweiz sicher nicht passieren, dass uns eine Bäuerin freudig hinterherrennt, weil sie uns gerne drei Kartoffeln schenken würde. Eben, die Gastfreundschaft ist gross und auch wer nicht viel hat, wird immer irgendwas finden, was er seinen Gästen oder den wenigen Touristen anbieten kann.
Wir wandern hier in wunderschönen Tälern Richtung Kacgar Dagi. Dieser ist mit 3932 MüM der höchste Berg des Pontischen Gebirges und könnte eigentlich relativ einfach bestiegen werden. Aber mit Klein R geht das natürlich nicht. Dafür sorgt Klein R mit ihrem neu erworbenen traditionellen Haarschmuck und dem selber ausgesuchten Strickgilet für strahlende Gesichter im Dorf. Wir sitzen mit den Frauen auf dem Dorfplatz während die Kinder spielen. Und wir unterhalten uns - irgendwie. Mit Händen und Füssen und einzelnen Türkischen Wörtern. Auf jeden Fall ist es für alle Beteiligten lustig. Um 18:00 Uhr ist Feierabend - "Mööh, mööh, süt, süt" - die Frauen müssen die Kühe melken, die von der Alp zurück sind.

Ein Bisschen wehmütig machen wir uns auf, über die gleiche kurvige Strasse wieder den Berg runter zu holpern. Auf halbem Weg bis New Yusufeli campieren wir neben einer hübschen Pension und dann – Regen! Echter Regen. Nass und kühl. Herrlich. Dies ist für uns der erste richtige Regen seit Korsika. Und das ist doch schon eine Weile her.
Und jetzt noch zu New Yusufeli und dem Coruh Fluss. Unter dem Namen „Coruh River Development Plan“ wird seit den 1970er Jahren an einem Mega-Projekt zur Stromgewinnung durch Wasserkraft gearbeitet. Insgesamt 13 Staudämme (einige Quellen sprechen von 27) wurden und werden hier gebaut. Dabei entstehen riesige Stauseen, welche gleich mehre Täler und somit auch Strassen und Dörfer überfluten. Die Landschaft wurde komplett umgestaltet und so fahren wir ganze drei Tage fast non-stop durch neu gebaute Tunnels und erhaschen hier und da einen Blick auf einen weiteren Stausee.
Yusufeli ist der prominenteste Ort, der überflutet wurde und so kam es, dass die Bewohner seit Frühling dieses Jahres in New Yusufeli leben. Ob sie, die vorher in einem grünen Tal gelebt haben, in ihren monotonen seelenlosen Wohnblöcken glücklich sind? Wir können es uns fast nicht vorstellen. Aber sie hatten ja keine Wahl. Und was sind die Alternativen? Will man "sauberen" Strom aus Wasserkraft oder weiterhin "dreckigen" Strom aus fossilen Energieträgern? Oder doch lieber ein weiteres Atomkraftwerk? Das sind schwierige Fragen und wir sind froh, dass wir sie nicht beantworten müssen.
Einige eindrückliche Bilder vom versinkenden Yusufeli gibt es auf dieser Webseite: Photos: A Turkish Town Swallowed by a Rising Reservoir - The Atlantic
Die Fragen, die wir aktuell beantworten müssen, sind dagegen geradezu banal. Kebab oder Köfte? Spaghetti oder Reis? Haupt- oder Nebenstrasse? Links oder rechts? Nach Yusufeli entscheiden wir uns für links und fahren durch 70 Tunnels bis nach Artvin. Dort gefällt es uns nicht und wir düsen weiter bis nach Savsat. Eh voilà – wir sind wieder in der Schweiz. Zwei Nächte verbringen wir auf einem offiziellen Picknick-Platz im Wald und amüsieren uns ab den Türkischen Touristen, die mit ihrer Techno und Folklore Musik die Freiheit der Berge zelebrieren.

Einmal über den Pass und wir sind wieder in der Einöde. In der Kleinstadt Ardahan erleben wir nochmals, wie sehr die Türkei ein Land mit zwei Gesichtern ist. Tschador neben Skinny Jeans. Bauern, die ihre Felder mit dem Pferd pflügen neben Ladestationen für Elektroautos. Bröckelnde Fassaden und grauenvolle Sanitäranlagen neben Starbucks-Abklatschen, die Mochachino mit Karamel- und Schokoladensauce zum Preis einer Hauptmahlzeit anbieten. Die Türkei scheint im Umbruch. Für uns bedeutet dies auf jeden Fall weiterhin eine spannende Reise.
Soooo spannend und amüsant zum läse miteme Gfüehu mit drbi zsi...Danke für die lehrriche, coole, interessante, witzige Iträg! 😍
Lg Stephi